Geschichten von den Halligen
Auf Schienen über den Damm
Neben dem Boot etablierte sich zwischen Halligen und Festland ab Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts ein weiteres und nun sehr außergewöhnliches Verkehrmittel. Um 1900 entschloss man sich, aus Küstenschutzgründen einen Damm zwischen der Gemeinde Dagebüll auf dem Festland und den Halligen Oland und Langeneß zu bauen. Zwischen 1927 und 1929 wurde der Damm mit einer Steinabdeckung und einem Schmalspurgleis versehen. Die Halligbewohner hatten damit eine neue Verbindung zum Festland - die so genannte Segellore. Dieses ungewöhnliche kleine Schienenfahrzeug bewegte sich nur mit Windkraft. Die Halligbewohner nutzten die Lore zum Transport von Waren und Lebensmitteln, aber auch Personen reisten mit. Teilweise wurde auch die Post mit der Segellore befördert. Dabei war die Lore ein Gefährt ohne jeglichen Komfort. Es gab nur eine Ladefläche, auf der auch die Mitreisenden Platz nehmen mussten. Auf jeder Seite waren Schiebestangen angebracht, an denen man das Fahrzeug bei einer Flaute anschieben konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Oländerin Magda Matthiesen von ihrem Onkel, der einen kleinen Laden auf Oland besaß, den Betrieb der Segellore. Um sie ranken sich zahlreiche Legenden, denn "Käptn Magda", wie Magda Matthiesen genannt wurde, war als resolute Person bekannt. Zeitweilig war ihre Segellore die einzige Verbindung zum Festland überhaupt. Der Komfort für die mitreisenden Gäste war gering. Häufig mussten sie auch noch beim Verladen der transportierten Waren mithelfen. Den Fahrpreis - er lag jahrelang bei 3,50 Mark - reduzierte das keineswegs. So erzählt man sich die Geschichte von einem Kapitän aus Hamburg, der seine Liebste auf der Hallig besuchen wollte. Auch er musste mit der Segellore reisen. Magda Matthiesen nahm den Fahrgast angeblich hart heran: Erst musste er Kartoffeln auf das Schienenfahrzeug laden, dann auch noch den ganzen Weg schieben, weil die Sitzplätze bereits alle besetzt waren. Trotzdem soll ihm "Käptn Magda" noch den Fahrpreis abgenommen haben - allerdings erst, nachdem er ihr auch beim Entladen der Waren geholfen hatte.
Heute noch sind Loren ein wichtiges Verkehrsmittel auf den Halligen. Auch nach Langeneß gibt es noch - wie einst zu Magda Matthiesens Zeiten - einen Lorenverkehr. Die modernen Loren sind zwar längst motorisiert, dennoch mutet die Art der Fortbewegung etwas altertümlich an. Die Geschichten von Magda Matthiesen und ihrer Segellore hielt vor allem ein Wattführer namens Karsten Hansen am Leben. Er berichtete den Gästen vom Festland immer wieder von dem besonderen Hallig-Verkehrsmittel und stieß damit auf großes Interesse. So entstand bei dem gelernten Tischlermeister Hansen im Jahr 2003 die Idee, nach historischem Vorbild eine Segellore nachzubauen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Freund Fiede Nissen, dem Postschiffer auf den Halligen. Nach einer alten Postkarte zeichnete Hansen erste Entwürfe; am 22. Mai 2004 konnte er schließlich mit dem Nachbau zum ersten Mal "in See stechen". Die Lore kann seither auf der Ketelswarf auf Langeneß besichtigt werden.